Gedanken für den 06.09.2024

Entscheiden

Es lebte einst ein armer Schuster, der war so glücklich, dass er den ganzen Tag von morgens bis abends bei seiner Arbeit sang. Die Kinder standen, wann immer sie konnten, vor seinem offenen Fenster und sahen und hörten ihm zu. Neben dem Schuster wohnte ein sehr reicher Mann. Der war so unglücklich. Tagsüber konnte er nicht schlafen, weil er den Schuster singen hörte. Nachts konnte er nicht schlafen, weil er sein Geld zählen und wieder verbergen musste.

Eines Tages lud er den Schuster zu sich ein und schenkte ihm einen Beutel voll Goldstücke. Nie in seinem Leben hatte der Schuster so viel Geld gesehen. Es war so viel, dass er Angst hatte, es aus den Augen zu lassen. Darum nahm er es mit ins Bett. Auch dort musste er immer an das Geld denken und konnte nicht einschlafen. So trug er den Beutel auf den Dachboden. Früh am Morgen holte er ihn wieder herunter, denn er hatte beschlossen, ihn im Kamin zu verstecken "Ich bringe das Geld lieber ins Hühnerhaus", dachte er etwas später. Aber damit war er auch noch nicht zufrieden. Nach einer Weile grub er ein Loch im Garten und legte den Geldbeutel hinein. Zum Arbeiten kam er nicht mehr. Und singen konnte er auch nicht mehr. Und was am schlimmsten war, die Kinder kamen ihn nicht mehr besuchen. Zuletzt war er so unglücklich und einsam, dass er den Beutel wieder ausgrub und damit zu seinem Nachbarn lief. "Bitte, nimm dein Geld zurück", sagte er. "Die Sorge darum macht mich ganz krank."

So wurde der Schuster bald wieder vergnügt und sang den ganzen Tag bei seiner Arbeit.

"Es ist ein böses Übel, das sah ich unter der Sonne: Reichtum, wohl verwahrt, wird zum Schaden dem, der ihn hat!"

(Prediger 5,12)



Axel Kühner "Überlebensgeschichten für jeden Tag"
© & 1991 Neukirchener Verlagsgesellschaft mbH, Neukirchen-Vluyn, 21. Auflage
2018
Mit freundlicher Genehmigung des Verlages
Quelle: www.miriam-stiftung.de