Gedanken für den 09.03.2024

Was wir wirklich brauchen

Von Rainer Maria Rilke gibt es eine Geschichte aus der Zeit seines ersten Pariser Aufenthaltes. Gemeinsam mit einer Französin kam er um die Mittagszeit an einem Platz vorbei, an dem eine Bettlerin saß, die um Geld bat. Ohne zu einem Geber je aufzusehen, saß die Frau immer am gleichen Ort und streckte ihre Hand bittend aus. Rilke gab nie etwas. Seine Begleiterin gab häufig ein Geldstück. Eines Tages fragte die Französin, warum er nichts gebe, und Rilke gab ihr zur Antwort: "Wir müssten ihrem Herzen schenken, nicht ihrer Hand!"

Wenige Tage später brachte Rilke eine eben aufgeblühte weiße Rose, legte sie in die offene, abgezehrte Hand der Bettlerin. Da blickte die Bettlerin auf, sah den Geber, erhob sich mühsam von der Erde, tastete nach der Hand des fremden Mannes, küsste sie und ging mit der Rose davon. Eine Woche lang war die Frau verschwunden, ihr Platz blieb leer. Nach acht Tagen saß die Bettlerin wieder da am gewohnten Platz und streckte ihre bedürftige Hand aus. "Aber wovon hat sie denn all die Tage, da sie nichts erhielt, nur gelebt?" fragte die Französin. Rilke antwortete ihr: "Von der Rose!"

Gott hat unserem Leben nicht nur die Gaben für die Hand zugedacht, sondern auch die Liebe für das Herz. Gott gab uns nicht nur die Lebensmittel für das äußere Leben, sondern auch für das innere Leben. Es geht für uns nicht nur um den Lebensunterhalt, sondern um den Lebensinhalt. Kein Leben erfüllt sich im Haben von Dingen, wohl aber im Erfahren einer großen Liebe. Darum gab uns Gott das Beste, seinen Sohn, seine ganze Liebe und Treue.

"Ich habe dich je und je geliebt, darum habe ich dich zu mir gezogen aus lauter Güte!" spricht Gott der Herr

(Jeremia 31,3)



Axel Kühner "Überlebensgeschichten für jeden Tag"
© & 1991 Neukirchener Verlagsgesellschaft mbH, Neukirchen-Vluyn, 21. Auflage
2018
Mit freundlicher Genehmigung des Verlages
Quelle: www.miriam-stiftung.de