Gedanken für den 16.12.2023

Ein unvergessliches Geschenk

Es war in der Weihnachtszeit 1947. Ich war seit zwei Jahren in russischer Kriegsgefangenschaft. Im Lager Nikolajew am Schwarzen Meer. Die Menge der Gefangenen war in Arbeitstrupps aufgegliedert. Wir waren etwa 3000 Mann. Jeden Morgen ging ich durch die Baracken und sagte ein bestimmtes Bibelwort als Losung. Dazu ein paar mutmachende Worte. Danach reihte ich mich in unsern Arbeitstrupp ein. Wir nahmen vor dem Lagertor Aufstellung. Es wurde nicht viel gesprochen. Hunger und Heimweh hatten uns wortkarg gemacht. Dazu noch die grimmige Kälte im Dezember. Immer wieder stieg in mir die Frage auf: Wie lange noch? Komme ich noch einmal lebend heraus? Abends kehrten wir erschöpft heim. Beim Marsch durch die Straßen wurde uns das Herz besonders weh, weil wir bei einzelnen Häusern hinter den Fenstern Adventskerzen brennen sahen. Die Sehnsucht nach der Heimat wurde dabei übermächtig. Als ich abends in unsere Baracke kam, lag auf meiner Matratze ein kleines Päckchen. Darauf stand "Für Weihnachten". Ich fand - in Zementpapier gehüllt - eine halbe Scheibe Brot. Ohne Butter und Belag - das gab es bei uns nicht. Wir verschlangen das Gefangenenbrot sonst, sobald wir es bekamen, und tranken dazu Wasser. Auf der halben Scheibe Brot lag ein Zettel mit den Worten: "Ich will an andern üben, was Gott an mir getan." Ich hatte einmal in einem Lagergottesdienst über den Vers gesprochen. Dann stand unter dem Spruch noch der Name eines jungen Kameraden, der heute ein bekannter Karikaturenzeichner ist.
Mit welcher Andacht habe ich diese halbe Scheibe Brot gegessen! Die schmeckte besser als heute eine ganze Schwarzwälder Kirschtorte. Einmal schon deshalb, weil uns jede Krume Brot kostbar war. Zum andern, weil mir ein Kamerad die Weihnachtsfreude verleiblichen wollte. Seine Dankbarkeit gegen Gott stattete der junge Mann dadurch ab, dass er meinen Hunger etwas stillen wollte. Das war in Brot gefasster Gottesdank und in Brot gefasste Bruderliebe. (Paul Deitenbeck)

Dies Gebot haben wir von ihm, dass, wer Gott liebt, dass der auch seinen Bruder liebe.
1.Johannes 4,21




Axel Kühner "Hoffen wir das Beste"
© 1997 Neukirchener Verlagsgesellschaft mbH, Neukirchen-Vluyn, 9. Auflage
2016
Mit freundlicher Genehmigung des Verlages
Quelle: www.miriam-stiftung.de