Gedanken für den 10.12.2023
Eine ganz traurige Geschichte
Die ersten fünf Schuljahre habe ich bei den Nonnen verbracht. Im Eingang der Schule hatten die Nonnen eine große Weihnachtskrippe aufgebaut, die das ganze Jahr über stehenblieb. Da war Jesus im Stall mit dem Vater und der Mutter und Ochs und Esel, und rundherum Berge und Steilhänge aus Pappmache, die nur von einer Herde Schäflein bevölkert waren. Jedes Schäflein stand für eine Schülerin, und je nach ihrem Betragen im Laufe des Tages wurde es von Jesus' Stall weggerückt oder ihm angenähert. Jeden Morgen, bevor wir in die Klasse gingen, kamen wir dort vorbei und mußten uns ansehen, welchen Platz wir einnahmen. Gegenüber dem Stall lag eine tiefe Schlucht, und dort standen die Allerschlimmsten, mit zwei Hufen schon über dem Abgrund.
Vom 6. bis 10. Lebensjahr war mein Leben davon bestimmt, welche Schritte mein Schäflein machte ... Ich war wirklich überzeugt, daß man gut sein müsse, nicht lügen sollte, nicht eitel sein dürfte. Dennoch war ich immer nahe daran, herunterzufallen. Warum? Wegen Nichtigkeiten. Wenn ich in Tränen aufgelöst zur Mutter Oberin ging, um sie nach dem Grund des neuerlichen Weggerücktwerdens zu fragen, antwortete sie: "Weil du gestern eine zu große Schleife im Haar hattest ... Weil eine Kameradin dich beim Verlassen der Schule summen hörte ... Weil du dir vor dem Essen nicht die Hände gewaschen hast." Eines Tages, als ich am äußersten Rand des Abgrunds angekommen war, fing ich an zu schluchzen und sagte: "Aber ich liebe Jesus doch!" Und weißt du, was die Schwester, die bei uns war, daraufhin sagte? "Ah, außer daß du unordentlich bist, lügst du auch noch. Wenn du Jesus wirklich lieb hättest, würdest du deine Hefte besser in Ordnung halten!" Und peng, gab sie meinem Schäflein mit dem Zeigefinger einen Schubs, so daß es in den Abgrund stürzte. Nach diesem Vorfall habe ich, glaube ich, zwei ganze Monate lang nicht geschlafen.
(Susanna Tamaro)
"Wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen. Wer aber einen dieser Kleinen, die an mich glauben, zum Abfall verführt, für den wäre es besser, daß ein Mühlstein an seinen Hals gehängt und er ersäuft würde im Meer, wo es am tiefsten ist!"
(Matthäus 18,3.6)
Axel Kühner "Hoffen wir das Beste"
© 1997 Neukirchener Verlagsgesellschaft mbH, Neukirchen-Vluyn, 9. Auflage
2016
Mit freundlicher Genehmigung des Verlages
Quelle: www.miriam-stiftung.de