Gedanken für den 05.09.2023

Alles zu seiner Zeit

Ein weiser alter Mann traf auf seinem Weg ein junges Mädchen. Er freute sich an der anmutigen Erscheinung und an ihrer Schönheit. Weil er voll Ehrfurcht war vor dem Leben, auch vor der Jugend, verbeugte er sich tief vor dem Mädchen. Er sagte: "Du bist ein hübsches Mädchen. Sage mir doch, wie alt du bist!" Wie es fernöstliche Art ist, verbeugte sich auch das Mädchen vor dem Alten. Errötend vor Freude sagte es: "Ihr seid in einem ehrwürdigen Alter, aber ich bin erst sechzehn Jahre alt!" Und der alte Mann sagte: "Du bist wirklich sehr schön. Vor dir liegen noch viele Jahre voll Freude und Lebensreichtum. Sei nur nicht traurig, wenn die Jahre der Jugend schnell vergehen und mit ihr deine jetzige Schönheit. Wenn du gütig bist, wird deine Schönheit nie weichen. Sie wird sich wandeln zur Reife und Würde des Alters!"
Das Mädchen verstand. Noch tiefer als zuvor verbeugte es sich vor der Weisheit des alten Mannes, bevor sie sich trennten.
Auf seinem Weg begegnete dem Alten eine junge Frau, die ein Kind an der Hand führte. Er schaute sie freundlich an. Auch vor ihr verbeugte er sich tief. Er sagte: "Du bist eine glückliche Frau, so schön wie der heutige Tag. Die Sonne scheint auf dein freundliches Gesicht. Ja, du stehst im Licht der Blüte deiner Jahre. Sei nicht traurig, wenn die Zeit schnell vergeht und die Jahre deines Lebens sich neigen.
Du wirst an das Ziel deines Weges kommen. Jeden Tag musst du dankbar annehmen. Wenn du wirklich lebendig lebst, wirst du zur Weisheit des Alters gelangen. Deine Kinder und Enkelkinder werden dir mit Ehrfurcht begegnen und von deiner Weisheit lernen!"
Die junge Frau hatte ihm dankbar zugehört. Beide verbeugten sich und gingen ihrer Wege. Der weise Alte traf auf eine andere Frau mit weißem Haar. Vom Alter gebeugt, saß sie auf einer Bank am Weg. Die untergehende Sonne ließ die vielen Falten ihres Gesichtes scharf hervortreten. Der weise alte Mann trat zu ihr und verbeugte sich diesmal besonders tief vor der Greisin. "Ihr seid ein glücklicher Mensch", sagte er, "weil Ihr am Ziel des Lebens seid. Was Ihr in achtzig Jahren gelebt und erfahren habt, tragt Ihr in euch. Von Reife und Würde, von Güte und Geduld, von Ruhe und Gelassenheit spricht Euer Antlitz zu mir. Ihr habt viel erlebt und gemeistert. Wie Zeichen des Himmels sind darum die kleinen Taten, die Ihr noch tun könnt, und in den wenigen Worten, die Ihr noch sagt, schwingt himmlische Weisheit!"
Lächelnd sah die Alte den Alten an. Sie deutete auf den Platz neben sich, und der Alte setzte sich zu ihr. Beide waren am Ziel ihres Weges. Gemeinsam schauten sie in die sinkende Sonne, die den Himmel in rotgoldenes Licht tauchte. (Eine chinesische Legende)

Gott hat alles schön gemacht zu seiner Zeit. Da merkte ich, dass es nichts Besseres gibt als fröhlich sein und sich gütlich tun in seinem Leben.
Prediger 3,11f




Axel Kühner "Hoffen wir das Beste"
© 1997 Neukirchener Verlagsgesellschaft mbH, Neukirchen-Vluyn, 9. Auflage
2016
Mit freundlicher Genehmigung des Verlages
Quelle: www.miriam-stiftung.de