Gedanken für den 01.07.2023
Wer ist frei?
Der Obdachlose etwa, der seine Wege frei wählen und Tage nach Lust und Laune gestalten kann? Völlig unbeschwert lebt er, nur mit einigen Plastiktüten und dem Allernötigsten unterwegs. Er schläft im Freien, kann sich jeden Abend eine andere Bank als Nachtlager aussuchen oder unter einer Brücke Schutz suchen. Niemand wartet auf ihn, keiner stellt ihn zur Rede. Auf niemanden muss er Rücksicht nehmen, sich nach keiner Uhr und keinem Termin richten. Er zahlt keine Steuern und muss kein Haus in Ordnung halten, keinen Garten pflegen, kein Konto verwalten. Er braucht keine nörgelnden Vorgesetzten zu fürchten und keine lustlosen Untergebenen anzutreiben. Er ist frei von Heimat und Besitz, von Ballast und Bindung, Forderung und Pflicht. Er hat keine Uhr, aber sehr viel Zeit. Ist er wirklich frei?
Bei aller Ungebundenheit ist er krank und heimatlos, unstet und immer auf sich allein gestellt. Seine Freiheit ist Ungeborgenheit und Einsamkeit.
So sind auch Menschen ohne Gott und ein Zuhause in seiner Liebe nicht frei, sondern krank und zerrissen, einsam und verloren.
Ein Obdachloser bat einst bei uns an der Haustür um Brot und Kaffee. Während er in Ruhe aß und trank, sprach ich mit ihm. Unser Michael, damals vier Jahre alt, stand hinter mir und beobachtete ängstlich den Mann mit seinem wilden Bart und verwegenen Aufzug. Der sah auf den Jungen, der sich am Vater festhielt und immer mal wieder hinter ihm hervorlugte. Als der Obdachlose schließlich aufstand, rollte ihm eine Träne in den Rauschebart, und er sagte: "Junge, du hast es gut, du hast einen Vater und ein Zuhause, und das hab ich nicht!"
Ohne Gott und seine Liebe sind Menschen nicht frei, sondern heimatlos und verloren.
Wie lieb sind mir deine Wohnungen, Herr, mein Leib und Seele freuen sich in dem lebendigen Gott. Wohl denen, die in deinem Hause wohnen; die loben dich immerdar.
Psalm 84,2ff
Axel Kühner "Hoffen wir das Beste"
© 1997 Neukirchener Verlagsgesellschaft mbH, Neukirchen-Vluyn, 9. Auflage
2016
Mit freundlicher Genehmigung des Verlages
Quelle: www.miriam-stiftung.de