Gedanken für den 01.06.2023
Die Lehre will das Leben nicht bedrücken
"Damals im Jahrhundert vor der Zerstörung des Tempels war das Studium teuer, und Stipendien gab es nicht. Hillel mußte, um das bewachte Lehrhaus betreten zu können, den Wächter bestechen, dem er jeden Tag die Hälfte von seinem Lohn als Holzhacker gab, und der war recht bescheiden.
Eines Tages, es war an einem Freitag mitten im Winter, hatte er keine Arbeit gefunden und besaß keinen Heller. Der Wächter weigerte sich, ihm Kredit einzuräumen, und Hillel versuchte vergeblich, ihn mit Schmeicheleien von seiner Vertrauenswürdigkeit zu überzeugen. In seiner Verzweiflung kletterte er heimlich aufs Dach, legte sich dicht neben die Dachluke und lauschte hingebungsvoll den Worten der Lehrer und Schüler unter ihm. Das scheint äußerst spannend gewesen zu sein, denn Hillel spürte die Kälte nicht. Er merkte auch nicht, daß es anfing zu schneien und der Schnee auf ihn herabrieselte und ihn zudeckte. Der Schwarzhörer auf dem Dach merkte überhaupt nichts, so intensiv lauschte er auf die Argumente und Gegenargumente unter ihm, damit ihm ja kein Wort entging.
Plötzlich wandte sich Schmaya an seinen Freund und Kollegen und bemerkte: Bruder Avtalion, warum ist es denn so dunkel hier im Zimmer? Als nun beide ihren Blick auf die Dachluke richteten, entdeckten sie dort den Kopf eines Menschen. Sofort wiesen sie ein paar Studenten an, aufs Dach zu steigen, und sie brachten Hillel hinein. Es war höchste Zeit, sonst wäre er erfroren. Seine Glieder waren steif und kalt wie Eis, aber sein Geist lebendig. Sie wuschen und massierten ihn und legten ihn neben den Ofen.
Da riefen die Meister: Wer einen solchen Wissensdurst besitzt, verdient, daß zu seiner Rettung die Heiligkeit des Sabbats verletzt wird! Denn jedes Lebewesen ist wichtiger als die Gesetze."
(Elie Wiesel) Die Lehre will das Leben nicht bedrücken, sondern befreien.
"Der Herr ist der Geist; wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit!"
(2. Korinther 3,17)
Axel Kühner "Hoffen wir das Beste"
© 1997 Neukirchener Verlagsgesellschaft mbH, Neukirchen-Vluyn, 9. Auflage
2016
Mit freundlicher Genehmigung des Verlages
Quelle: www.miriam-stiftung.de