Gedanken für den 12.05.2023

Maikäfer, flieg!

Gestern Abend - ich knabberte gerade an einem zarten grünen Blättchen - kam ein junges Paar durch den duftenden Jenisch-Park geschlendert. Sie ließen sich auf der grünen Bank direkt vor meiner flüsternden Buche nieder und wirkten auf mich wie zwei große glückliche Käfer. Gerade wollte ich mir ein Blättchen heranzupfen - eine zarte Knospe von saftigem Aussehen -, da ließ das junge Fräulein einen jammervollen Seufzer ertönen, wie ich ihn in meinem ganzen 48stündigen Leben noch nicht vernommen hatte. Gleich darauf knurrte der junge Mann so mürrisch, als ob bereits der Juni drohte, und dann klagten die zwei über Geld, Arbeit, Wohnungen so negativ und ausdauernd, als ob ihnen der liebe Gott gar keinen lauen Maienabend geschenkt hätte. Weil sie den Duft der Bäume, den Mond und den Ruf der Drossel bei ihrem Lamentieren ganz vergaßen, pumpte ich mich flugs startfertig und flog eine fröhlich brummende Ehrenrunde vor den beiden. Die junge Frau bemerkte mich als erste: "Guck mal, ein Maikäfer!", rief sie erfreut, "der erste in diesem Jahr." Das stimmte zwar nicht ganz - hatte ich doch gerade vorhin auf der Birke zwei ältere Maikäferinnen kennengelernt, aber es schmeichelte mir doch sehr. "In ein paar Tagen ist er sowieso hinüber", entgegnete ihr der junge Mann, und das fand ich sehr ungehörig und dumm. Schließlich können ein paar Tage eine lange Zeit voll ungeahnter Entdeckungen und herrlicher Augenblicke sein. Man muss sie nur in vollen Zügen Blatt für Blatt zu genießen wissen. Ja, ich möchte fast behaupten, dass ich aus meinen kleinen Maientagen mehr machen kann als diese Leute aus einem ganzen Jahr voll gigantischer Zukunftssorgen. Man muss nur einen Blick für die schönen Bäume haben, dachte ich, und da fiel mir wieder meine köstliche Buchenknospe ein. Ich ließ die beiden auf ihrer sorgenvollen Bank allein zurück und landete mit einem ausgelassenen Looping auf meiner gastlichen Buche. Arme Zweifüßler! Ob sie überhaupt wissen, wie viel ihnen in ihrem Leben entgeht? Dankbar ergriff ich ein schimmerndes Blättchen und knabberte zärtlich ein anständiges Loch hinein. (Georg von Halem)

Doch ich sah, dass alles von Gottes Hand kommt. Denn wer kann fröhlich essen und genießen ohne ihn?
Prediger 2,24f




Axel Kühner "Hoffen wir das Beste"
© 1997 Neukirchener Verlagsgesellschaft mbH, Neukirchen-Vluyn, 9. Auflage
2016
Mit freundlicher Genehmigung des Verlages
Quelle: www.miriam-stiftung.de