Gedanken für den 23.04.2023

Worte des Lebens sind lebendig

Im Moskauer Staatstheater fand die Premiere des antireligiösen Stückes "Christus im Frack" statt. Schulen, Jugendorganisationen und Jungarbeiter sollten das Stück in ihr Kulturprogramm aufnehmen und diskutieren.
Die Hauptrolle des Christus spielte der berühmte Schauspieler und Kommunist Alexander Rostowzew. Kein Wunder, daß das Theater bis auf den letzten Platz ausverkauft war. Auf der Bühne stand ein "Altar" - mit Schnaps- und Bierflaschen übersät. Betrunkene und grölende Popen, Nonnen und Mönche bewegten sich um diese Bartheke.
Zu Beginn des zweiten Aktes betritt Rostowzew die Bühne. In seinen Händen hält er die Heilige Schrift. Laut Regieanweisung hat er mit Witzen und Späßen die Zuschauer zu Lachstürmen hinzureißen. Alles, was mit Dummheit und Aberglauben zusammenhängt, ist hineingepackt. Nach Verlesen der ersten beiden Verse aus der Bergpredigt soll der Schauspieler in den Ruf ausbrechen: "Reicht mir Frack und Zylinder!"
Rostowzew beginnt und liest: "Freuen dürfen sich alle, die sich arm fühlen vor Gott; denn Gott liebt sie und öffnet ihnen die Tür zu seinem Reich. - Freuen dürfen sich alle, die trauern; denn Gott wird sie trösten."
Der Regisseur schmunzelt hinter den Kulissen in sich hinein: In wenigen Augenblicken werden die Lachstürme losbrechen. Aber nichts von dem geschieht. Rostowzew liest weiter: "Freuen dürfen sich alle, die keine Gewalt anwenden, denn sie werden das Land erben!" Das Publikum rührt sich nicht. Es spürt sofort, daß in dem Schauspieler etwas vorgeht. Alle halten den Atem an. Dann, nach kurzer Unterbrechung, liest er weiter. Mit einem anderen Klang in der Stimme. Totenstille. Der Staatsschauspieler tritt mit der Heiligen Schrift an die Rampe, schaut wie gebannt in das Buch und liest . . . und liest . . . alle 48 Verse des 5. Kapitels des Matthäus-Evangeliums. Niemand unterbricht ihn. Sie lauschen - als stünde Jesus selber vor ihnen. Dann kommt es leise von seinen Lippen: "Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist!"
Rostowzew schließt das Buch. Es sieht so aus, als deute er damit auch etwas Endgültiges für sein Leben an. Er bekreuzigt sich nach orthodoxer Art und spricht laut und vernehmbar die Worte des Schächers am Kreuz: "Herr, gedenke meiner, wenn du in dein Reich kommst!"
Niemand schrie oder pfiff oder protestierte. Stumm verließen alle das Theater. Es war wie nach einem Gewitter: Der Blitz hatte eingeschlagen und alle getroffen.
Das Stück kam nicht mehr zur Aufführung. Und Rostowzew war nach jenem Premierenabend für immer verschwunden.
(Nach P. Chrystomus Dahm)

"Das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer als jedes zweischneidige Schwert und dringt durch, bis es scheidet Seele und Geist, und ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens!"
(Hebräer 4,12)


Axel Kühner "Hoffen wir das Beste"
© 1997 Neukirchener Verlagsgesellschaft mbH, Neukirchen-Vluyn, 9. Auflage
2016
Mit freundlicher Genehmigung des Verlages
Quelle: www.miriam-stiftung.de