Gedanken für den 28.01.2023
Die Betten des Prokrustes
Theseus begegnete der griechischen Sage nach auf seinem Weg nach Athen vielen Gefahren und schlimmen Feinden. Der grausamste von ihnen war der Straßenräuber Prokrustes. Er überfiel die Vorbeikommenden und tat ihnen Gewalt an. Er hatte sich zwei Bettgestelle gemacht, ein sehr langes und ein sehr kurzes. Die kleinen Leute unter seinen Opfern legte er in die lange Bettstelle und sprach beim Schlafengehen zu ihnen: "Wie du siehst, ist meine Lagerstatt für dich viel zu groß. Lass dir das Bett anpassen, Freund!" Und dann dehnte er den Gast so lange, bis er unter Schmerzen zugrunde ging. Kam aber ein großer Mensch vorbei, so legte er ihn gewaltsam in die kurze Bettstelle und erklärte ihm: "Es tut mir leid, mein Guter, dass mein Lager für dich viel zu klein ist!" Und dann hieb er ihm die Beine, soweit sie über das Bett hinausragten, ab.
Theseus aber überwand den grausamen Straßenräuber, legte ihn in das kleine Bett und kürzte ihm mit seinem Schwert den Riesenleib.
Heute sind die Prokrustesbetten natürlich ganz anders gebaut. Sie sind Denkschubladen, Vorurteile, falsche Bilder und feste Meinungen, die wir uns von Menschen machen. Wir messen und beurteilen andere nach unseren vorgefertigten Ansichten. Das Grausame ist, wir sehen oft nur zwei Möglichkeiten. Die einen erscheinen uns zu klein, und wir strecken sie, obwohl es ihnen weh tut. Andere sind uns viel zu groß. Die stauchen wir ordentlich zusammen, auch wenn es sie umbringt.
Nach welchem Recht ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden; und mit welchem Maß ihr messt, wird euch zugemessen werden.
Matthäus 7,2
Axel Kühner "Hoffen wir das Beste"
© 1997 Neukirchener Verlagsgesellschaft mbH, Neukirchen-Vluyn, 9. Auflage
2016
Mit freundlicher Genehmigung des Verlages
Quelle: www.miriam-stiftung.de