Gedanken für den 26.07.2022
Der Stellvertreter
Im letzten Haus des Dorfes, einem alten, halb zerfallenen Speicher, wohnte ein buckliger Mann ganz allein. Er wurde von allen gemieden, denn er war wegen Brandstiftung mit einer schweren Freiheitsstrafe belegt worden. Er hatte einst die Mühle des Dorfes angezündet.
Nach langen Jahren kam er aus dem Gefängnis zurück, menschenscheu und noch zusammengefallener als früher. Sogar zum Kinderschreck war er geworden, denn wenn die Kinder nicht brav sein wollten, drohten die Mütter mit dem Zuchthäusler, der sie holen würde.
Nur einer kümmerte sich um den Ausgestoßenen, und das war der Müller, dem der Bucklige dieses Unrecht angetan hatte. Jeden Sonntagnachmittag saß der Müller bei dem Geächteten, und niemand konnte begreifen, was er dort zu tun hätte. Erst redete man darüber, dann wurde es ruhig über dieser Schrulle des Müllers. Und so ging es noch manches Jahr.
Der Bucklige starb. Hinter seinem Sarg gingen der Pfarrer und der Müller - sonst keiner mehr. Denn wenn erst einer aus der Dorfgemeinschaft ausgeschlossen ist, gibt es keine Barmherzigkeit mehr, auch im Tod nicht.
Und wieder nach einiger Zeit klopfte der Tod auch bei dem Müller an, und diesmal ging der Pfarrer nicht allein hinter dem Sarg. Das ganze Dorf folgte, denn der Müller war eine Respektsperson. Der Pfarrer sprach über ein Trost- und Bibelwort. Aber die Leute begannen erst da aufzuhorchen, als er folgendes erzählte: "Ihr habt euch oft gewundert, dass der Müller so freundlich zu dem Buckligen war. Heute sollt ihr den Grund erfahren. Kurz vor seinem Tod hat mir der Müller gebeichtet, dass er seine Mühle selbst angezündet habe, und er wäre dafür unfehlbar ins Zuchthaus gekommen.
Der Bucklige hatte die Gewohnheit, öfters in der Nacht noch draußen umherzustreichen, und da hatte er wohl den Müller bei seiner Tat beobachtet. Da kam der Bucklige eines Abends zu ihm und erklärte, er habe keinen Menschen auf der Welt, er wolle sich darum als Brandstifter ausgeben und alle Schuld auf sich nehmen, damit der Müller und seine Familie nicht ins Unglück kämen.
So konnte bei der Gerichtsverhandlung dann auch nachgewiesen werden, dass der Angeklagte in der Brandnacht nahe der Mühle gesehen worden sei. Viel Sympathien genoss er ohnehin nicht im Dorf, so wurde er denn verurteilt. Jahrelang hat dann der einsame Mann die fremde Schuld getragen, als Stellvertreter des Müllers. Dem Mann hier im Sarg hat Gott seine Schuld vergeben. Bitten wir nun Gott, dass er unsere Schuld dem Buckligen gegenüber auch vergebe, und lasst uns sein Andenken in Ehren halten."
Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn für nichts geachtet. Fürwahr, er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen.
Jesaja 53,3-4
Axel Kühner "Eine gute Minute, 365 Impulse zum Leben"
© 1994 Neukirchener Verlagsgesellschaft mbH, Neukirchen-Vluyn, 11. Auflage
2015
Mit freundlicher Genehmigung des Verlages
Quelle: www.miriam-stiftung.de