Gedanken für den 24.05.2022

Es ist umgekehrt

In der deutschen Sprache konjugieren wir: ich, du, er, sie, es. In der hebräischen Sprache ist es umgekehrt. Dort konjugiert man: er, sie, es, du, ich. Für ein Kind beginnt der Weg zum Ich tatsächlich mit dem Wahrnehmen der Umgebung. Ein Kind tritt in die Welt des Er, Sie und Es ein und hört und sieht und nimmt wahr. Erst viel später kommt das Du, die direkte persönliche Anrede und Beziehung, und zum Schluss stehen auch das Ich und das Ichbewusstsein. Leben erschließt sich also nicht von mir her auf das Du und die Welt, sondern umgekehrt von der Weltwahrnehmung und dem Du her zur Entdeckung und Entfaltung des Ichs und der eigenen Persönlichkeit. Jede neue Orientierung beginnt mit dem Wahrnehmen der Umgebung, der Verbindung zu Menschen, und erst am Schluss entsteht die Verarbeitung und Veränderung in mir. So ist es auch in der Glaubensbeziehung. Gott macht sich bemerkbar in der Welt, der Geschichte, in Ereignissen und Dingen, dann spricht er mich persönlich an, und am Ende steht meine Antwort: Ich glaube.
Wenn heute diese Lebensbewegung umgekehrt verläuft, indem Menschen mit sich und ihren Meinungen beginnen, über das Du zum Leben und zur Welt kommen wollen, ist alles auf den Kopf gestellt. Steht meine Sicht und mein Ich am Anfang, ist die große Möglichkeit, wirklich zum Leben und zu mir zu finden, schon verspielt.
Wenn es also umgekehrt ist, dann müssen auch wir umkehren mit der Konjugation des Lebens. Er, Gott, steht am Anfang, sie, die Welt, ist vor uns da, es, das Leben, wartet auf uns. Du Herr, hast schon vor meiner Geburt in Liebe an mich gedacht, darum bin ich dein Kind und freue mich am Leben.

Einer kehrte um und pries Gott mit lauter Stimme und fiel auf sein Angesicht zu Jesu Füßen und dankte ihm.
Lukas 17,15f




Axel Kühner "Eine gute Minute, 365 Impulse zum Leben"

© 1994 Neukirchener Verlagsgesellschaft mbH, Neukirchen-Vluyn, 11. Auflage

2015

Mit freundlicher Genehmigung des Verlages

Quelle: www.miriam-stiftung.de