Gedanken für den 26.03.2022

Ein Blick in die Augen

Der Befehlshaber der Besatzungstruppen sagte zu dem Bürgermeister des Bergdorfes: "Wir sind sicher, dass ihr einen Verräter in eurem Dorf versteckt. Wenn ihr ihn uns nicht übergebt, werden wir euch und die Dorfbewohner in Angst und Schrecken versetzen!"
In der Tat versteckte sich ein Mann im Dorf, der aber gut und aufrichtig schien und von allen geliebt wurde. Aber was konnte der Bürgermeister tun, wenn das Wohlergehen des ganzen Dorfes auf dem Spiel stand? Tagelange Beratungen im Dorfrat führten zu keinem Entschluss. Also beriet der Bürgermeister die Angelegenheit mit dem Dorfgeistlichen. Der Priester und der Bürgermeister suchten eine ganze Nacht in der Schrift und stießen zuletzt auf ein Wort: "Es ist besser, einer stirbt und das Volk wird gerettet." Also übergab man den unschuldigen Mann den Besatzungstruppen. Er wurde grausam gefoltert, bis seine Schreie im ganzen Dorf zu hören waren, und schließlich wurde er getötet. Zwanzig Jahre später kam ein Prophet durch jenes Dorf, ging direkt zu dem Bürgermeister und sagte: "Was habt ihr getan? Dieser Mann war von Gott ausersehen, der Retter dieses Landes zu werden. Und ihr habt ihn ausgeliefert, so dass er gefoltert und getötet wurde."
"Was konnte ich denn tun?", wandte der Bürgermeister ein. Der Priester und ich sahen in der Schrift nach und handelten entsprechend."
"Das war euer Fehler", sagte der Prophet, "ihr saht in die Schrift. Ihr hättet auch in seine Augen sehen sollen!" (Anthony de Mello)

"Öffne mir die Augen, dass ich sehe die Wunder an deinem Gesetz!"
(Psalm 119,18)


Axel Kühner "Eine gute Minute, 365 Impulse zum Leben"

© 1994 Neukirchener Verlagsgesellschaft mbH, Neukirchen-Vluyn, 11. Auflage

2015

Mit freundlicher Genehmigung des Verlages

Quelle: www.miriam-stiftung.de