Gedanken für den 03.11.2021

Unfassbar

Wie sehr wir im Empfinden und Reagieren von uns selbst und wie wenig wir vom anderen ausgehen, wurde mir einmal bei folgendem Erlebnis deutlich: In Marburg besuchte ich Freunde. Es war ein Wintertag und abends schon stockdunkel. Hans wollte gern mit mir noch einen langen Waldspaziergang machen. Da er sich sehr gut auskannte, vertraute ich mich ihm sorglos an. So gelangten wir in den nahe gelegenen Wald, in dem es nun so finster war, dass man buchstäblich die Hand vor Augen nicht sehen konnte. Vorsichtig hielt ich mich eng an seiner Seite, ich ließ seine Schulter stets die meine spüren, um auf dem Weg zu bleiben. Langsam löste sich meine Verkrampfung und wir unterhielten uns angeregt. Plötzlich hörten wir ein Rascheln und dann Schritte. "Da kommt jemand", sagte ich besorgt. "Das ist Herr X, der macht hier jeden Tag seine Runde", bemerkte Hans. Herzliche Begrüßung, einige freundliche Worte, und jeder ging seines Weges. "Dass der sich bei der Dunkelheit allein in den Wald traut", sagte ich erstaunt. "Der Mann ist völlig blind", sagte Hans, "aber der kennt hier jeden Meter."
"Das ist ja unfassbar", sagte ich, "geht als Blinder in diesen dunklen Wald, wo ich noch nicht einmal etwas sehen kann!" Worauf Hans ganz locker sagte: "Für ihn ist es auch mittags so dunkel!" Da erst merkte ich, dass das Einzige, was unfassbar war, meine Reaktion war. Ich hatte es mit meinen Augen gesehen und nur von mir aus bewertet.

Niemand betrüge sich selbst. Wer unter euch meint, weise zu sein in dieser Welt, der werde ein Narr, dass er weise werde!
1.Korinther 3,18




Axel Kühner "Zuversicht für jeden Tag"
© 2002 Neukirchener Verlagsgesellschaft mbH, Neukirchen-Vluyn, 7. Auflage
2017
Mit freundlicher Genehmigung des Verlages
Quelle: www.miriam-stiftung.de