Gedanken für den 15.10.2021

Die alte Frau Schatt

Die alte Frau Schatt war drei Wochen krank,
sie lag zwischen Waschtisch und Kleiderschrank
in ihrem Bettzeug aus gelbem Linn
und wimmerte leise vor sich hin.
Die Busklingeln schrillten, die Sonne schien warm,
die Kinder spielten Prinzess und Schandarm.
Wer fragt schon in der großen, großen Stadt
nach der alten Frau Schatt?

Sechs Familien wohnten im gleichen Haus,
die gingen geschäftig ein und aus,
jeder in Eile, jeder in Hatz.
Nur manchmal auf dem Treppenabsatz
blieb einer stehen, verschnaufte im Lauf:
"Schon gehört? Bei Karstadt ist Schlussverkauf!"
Wer fragt schon in der großen, großen Stadt
nach der alten Frau Schatt?

Im Fernsehen, klar, da ist man im Bild,
da sitzen sie stumm und glotzen wild:
Tatort, Der Chef, XYZ,
Flipper, Sportreportage, Ballett.
Und hier ist Krieg und dorten brennt's!
In Ottawa tagt die Geheimkonferenz.
Wer fragt schon in der großen, großen Stadt
nach der alten Frau Schatt?

Und als man sie fand, die alte Frau Schatt,
da drückten die Kinder die Nasen platt
am Fenster und sahen sie klein und bleich
verhutzelt liegen im Bett als Leich
mit zahnlosem Mund und knochigem Arm -
dann spielten sie wieder Prinzess und Schandarm.
Wer fragt schon in der großen, großen Stadt
nach der alten Frau Schatt?

Am Grabloch stand ein Pfarrer bestellt,
der Küster hat mit der Glocke geschellt.
Es regnete. Keine Blume, kein Kranz.
Nur ein Hündchen mit eingezogenem Schwanz,
ein verirrtes, kläfft in die Grube hinab,
und der Wärter brummelt erbost: "Hau ab."
Wer fragt schon in der großen, großen Stadt
nach der alten Frau Schatt,
nach der alten Frau Schatt?
(Rudolf Otto Wiemer)

Und lasst uns aufeinander Acht haben und uns anreizen zur Liebe und zu guten Werken!
Hebräer 10,24




Axel Kühner "Zuversicht für jeden Tag"
© 2002 Neukirchener Verlagsgesellschaft mbH, Neukirchen-Vluyn, 7. Auflage
2017
Mit freundlicher Genehmigung des Verlages
Quelle: www.miriam-stiftung.de