Gedanken für den 31.08.2021
Die Stellvertreterin
Einst lebte eine junge, schöne Nonne, die diente als Küsterin in ihrem Kloster. Sie tat all ihre Arbeit mit Eifer und Freude, besondere Sorgfalt und Mühe aber verwandte sie auf den Altar der Muttergottes, denn sie liebte sie von ganzem Herzen.
Eines Tages kam ein junger Ritter in das Kloster, der auf dem Rückweg von seiner Wallfahrt nach Santiago de Compostela war. Er verliebte sich in die junge Nonne, und sie verliebte sich in ihn. Jeden Tag kam der Ritter in die Kirche und bat seine Liebste, mit ihm zu fliehen, und er beteuerte ihr, dass er keinen sehnlicheren Wunsch habe, als sie in seiner Heimat zu seiner rechtmäßigen Gemahlin zu machen und frei und glücklich mit ihr zu leben.
Lange Zeit widerstand die junge Nonne seinem Begehren, schließlich aber gab sie ihm nach. Eines Nachts trat sie ein letztes Mal vor den Altar der Muttergottes, brachte ihr noch einmal einen Strauß weißer Rosen und bat: "Heilige Mutter, versieh du meinen Dienst, wenn ich fort bin!"
Da lächelte die Statue und sprach: "Ich will es tun, doch kehre wieder!"
Die junge Nonne folgte ihrem Liebsten in seine Heimat und wurde seine Frau. Zwölf Jahre lang lebte sie mit ihm in Glück und Freude und schenkte ihm sieben schöne Söhne. Als aber das zwölfte Jahr vergangen war, hatte sie des Nachts einen Traum. Die Muttergottes erschien ihr und sprach: "Nun habe ich deinen Dienst lange genug versehen. Es wird Zeit, dass du zurückkehrst!"
Nachdem sie den gleichen Traum noch zweimal geträumt hatte, ging sie eines Nachts und holte ihr Nonnengewand aus der Truhe; sie küsste ihren schlafenden Mann und ihre schlummernden Söhne und wanderte den weiten Weg zu ihrem Kloster zurück.
Als sie aber in die Kirche trat, stand auf einmal die Muttergottes vor ihr und sah aus wie sie und sprach: "Zwölf Jahre habe ich treu deinen Dienst versehen, und niemand hat gemerkt, dass du draußen in der Welt warst. Nun aber ist mir die Zeit zu lang geworden!" Und auf einmal war die Nonne allein in der Kirche, und die Statue der Muttergottes stand schön und golden auf dem Altar und lächelte still. Und als die Nonne später zum Nachtmahl ging, merkte sie, dass niemandem ihre Abwesenheit aufgefallen war.
Bald darauf war der achte September, das Fest Mariä Geburt, und alle Nonnen hatten ein schönes Geschenk für die Muttergottes vorbereitet. Die einen hatten prächtige Stickereien angefertigt, andere ein schweres Chorstück eingeübt, nur sie allein hatte nichts und stand mit leeren Händen da, und ihre Mitschwestern sahen sie strafend an. Da ertönte plötzlich ein Hornsignal, das Kirchenportal flog auf, und herein kam ihr Mann, und ihre sieben Söhne folgten ihm. Sie eilte zu ihnen, zog die Knaben vor den Altar und rief: "Heilige Mutter, dies ist mein Geschenk für dich!" Und zum Erstaunen aller, die sich in der Kirche zu Ehren der Muttergottes versammelt hatten, neigte die Statue lächelnd das Haupt, und auf einmal lagen sieben Rosenkränze auf den Häuptern der Knaben. Und das war das Zeichen, dass die Muttergottes das Geschenk der Nonne angenommen hatte. (Märchen aus dem Elsass)
Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus, denn die Furcht rechnet mit Strafe. Wer sich aber fürchtet, der ist nicht vollkommen in der Liebe.
1.Johannes 4,18
Axel Kühner "Zuversicht für jeden Tag"
© 2002 Neukirchener Verlagsgesellschaft mbH, Neukirchen-Vluyn, 7. Auflage
2017
Mit freundlicher Genehmigung des Verlages
Quelle: www.miriam-stiftung.de