Gedanken für den 21.07.2021

Befreit

Endlich kommt Bewegung in mein Leben. Ein Fahrstuhlkatalog liegt auf dem Schreibtisch. Dann suchen wir aus.
"Er" soll der leichteste, kleinste und preiswerteste sein - mit Rücksicht auf die Menschen, die ihn tragen, schieben und bezahlen wollen ...
Dann steht er zusammengefaltet neben mir, mein "Gefährte". Ich kann den Blick nicht von ihm wenden. Noch in der Nacht glitzert er verführerisch, wenn sich auf seinem blanken Gestell das Licht der Laterne von draußen spiegelt. Bald darf auch ich nach draußen. Ich darf verreisen!
Es beginnt eine Zeit, die gefüllt ist mit Entdeckungen. Es duftet herauf zu mir von den Kräutern am Wegrand, Brennnesseln sehe ich wieder blühen, Maientriebe an den Fichten betaste ich vorsichtig, fühle Blätter und Baumrinden. Und ich lebe so gern - noch ungeübt, alles zu überschauen, noch schnell ermüdend.
Und schon denke ich weiter. In immer wiederkehrenden Träumen fährt mich der Fahrstuhl allein, ohne fremde Hilfe. Und nach drei Jahren ist es so weit. Ein junger Pastor erklärt mir das so: "Diesmal muss es ein elektrischer Fahrstuhl sein!" Erstaunt und ein bisschen unsicher frage ich nach, weil ich jubeln möchte und mich zugleich vor Versprechungen und Enttäuschungen fürchten gelernt habe: "Meinen Sie es wirklich ernst?" Er lacht, offen, herzlich und sagt die guten Worte: "Dieser Fahrstuhl für Sie ist mir genauso wichtig wie ein Paar Schuhe, die ich einem Menschen besorge, der keine hat - damit er wieder laufen kann!"
So habe ich die Fähigkeit erworben - im übertragenen Sinne -, wieder laufen zu können, und bin "entfesselt".
Am Abend fahren wir hinaus, mein "Gefährte" und ich, um die Amseln zu hören. Die Stadt ist mir noch fremd, besonders der ungewohnte, lärmende Verkehr. Mein Herz hämmert, wenn wir die Straße überqueren müssen. "Er" aber hat Nerven aus Stahl. Wir lernen, den Schaufensterbummel schön zu finden und draußen "vor" einem Laden einzukaufen. Oft sind wir von Kindern eingekreist, die "ihn" fachmännisch untersuchen und auch einmal steuern möchten. Mit "tiefem Gebrumm" wird ein Berg erklommen, und ins Tal hinunter sausen wir mit "hellem Ton". Immer singt der Motor seine Melodie dazu.
Bewegung ist in mein Leben gekommen, Bewegung, die befreit, die sich überträgt, die mich empfinden lässt: Ich komme vorwärts. Impulse übertragen sich und lassen mich ganz vergessen, dass es nicht meine eigene Kraft ist, die mich bewegt.
Leben wir aber nicht alle aus der Kraft, die nicht die unsere ist?
Gottes Kraft kann auf vielerlei Weise mächtig werden. (Lieselotte Jacobi)

Der Herr ward meine Zuversicht. Er führte mich hinaus ins Weite, er riss mich heraus; denn er hatte Lust zu mir!
Psalm 18,19f




Axel Kühner "Zuversicht für jeden Tag"
© 2002 Neukirchener Verlagsgesellschaft mbH, Neukirchen-Vluyn, 7. Auflage
2017
Mit freundlicher Genehmigung des Verlages
Quelle: www.miriam-stiftung.de