Gedanken für den 20.07.2021

Gefesselt

Immer wieder kann man lesen und hören, ein Mensch sei "an den Rollstuhl gefesselt". Dieser Ausspruch, oft gedankenlos nachgeplappert, trifft aber den Behinderten ins Herz. Auch wenn dieser Satz vielleicht geprägt wurde, um Mitleid zu erregen oder Nachsicht zu erbitten, stutze ich jedes Mal davor, falle über ihn her und möchte ihn verschlingen und unschädlich machen.
"Fesseln" sprechen eine düstere, muttötende Sprache. Als Gefesselte fühlen wir uns doch gedanklich eingezwängt in solche Begriffe wie Gefängnis, Dunkelhaft, Strafe. Wir sind isoliert, entfremdet, weit ab von den anderen.
Es stimmt wohl, dass unser Leben mühselig und beladen ist. Wir tragen schwer daran, dass wir manchmal ausgeliefert sind an Menschen, die Macht ausüben.
Doch: Muss die Last nur lästig und Fessel sein? Oder: Können wir versuchen, zu dem "nicht zu lösenden" Problem ein "gelösteres" Verhältnis zu bekommen?
Können wir lernen, im "Aufgeben" eine neue "Aufgabe" zu finden?
Können wir es wagen, die eigene Last nicht einseitig zu tragen, sondern vielleicht die eines anderen mitzutragen, auf unsere Weise, damit wir ausgewogener und ausgelasteter werden? Manchmal erleichtert es, nicht mehr an das Loswerden unserer Last zu denken, sondern sich bewusst zu machen, was wir an Gutem dagegensetzen könnten.
Vielleicht - fahrbereit zu werden! Im Fahrstuhl ...
Ich liege und warte. Ich träume von ihm, wünsche, bitte und dränge danach, fahren zu dürfen. Ich muss lange warten. Vielleicht denkt man auch, ich könnte wieder gesund werden.
Im Sommer beuge ich den Kopf weit aus dem Fenster, damit mir der Wind wieder um die Nase wehen kann. Ich spüre ihn im Haar, im Gesicht, und ich schnuppere nach dem Duft, der herüberkommt von Holunder und Ahorn. Die Menschen sind mir ferner aus meiner Vogelperspektive, die Spatzen näher in der Dachrinne. Es stört sie nicht, wenn der Sturm ihren Federrücken aufraut.
Sommerblumen male ich gern. Sie sollen nicht verblühen. Sie fordern mich auf, in sie hineinzusehen, um das Bewundern, Staunen und Freuen nicht zu verlieren. - Im Liegen sieht es sich leichter in die Wolken. Auch sie sind näher jetzt und meine Gefährten. Vorüberziehende. Täglich gleiten sie still dahin, verändern und vertiefen den weiten Himmel. - Ich höre den Mittagszug und denke in die Weite. (Lieselotte Jacobi)

Als mir Angst war, rief ich den Herrn an und schrie zu meinem Gott. Da erhörte er meine Stimme von seinem Tempel, und mein Schreien kam vor ihn zu seinen Ohren.
Psalm 18,7




Axel Kühner "Zuversicht für jeden Tag"
© 2002 Neukirchener Verlagsgesellschaft mbH, Neukirchen-Vluyn, 7. Auflage
2017
Mit freundlicher Genehmigung des Verlages
Quelle: www.miriam-stiftung.de