Gedanken für den 28.03.2021
Die Legende vom Rotkehlchen
Es war zu der Zeit, da unser Herr die Welt erschuf - gegen Abend kam es ihm in den Sinn, einen kleinen grauen Vogel zu erschaffen. "Merke dir, dass dein Name Rotkehlchen ist!", sagte unser Herr zu dem Vogel, als er fertig war - und ließ ihn fliegen. - Da flog der Vogel zu unserem Herrn zurück. "Warum soll ich Rotkehlchen heißen, wenn ich ganz grau bin?", fragte er. Der Herr lächelte nur still und sagte: "Ich habe dich Rotkehlchen genannt, aber du musst selbst zusehen, dass du dir deine roten Brustfedern verdienst."
Eine unendliche Menge von Jahren war seit diesem Tage verflossen. - Da brach ein Tag an, der auch in der Geschichte der Erde lange nicht vergessen werden sollte. Am Morgen dieses Tages saß ein Rotkehlchen auf einem kleinen Hügel vor den Mauern Jerusalems. Es erzählte seinen Jungen vom Schöpfungstage und von der Namensgebung. "Seht nun", schloss es betrübt, "so viele Jahre sind seither verflossen, so viele Rosen haben geblüht, so viele junge Vögel sind aus ihren Eiern gekrochen, aber das Rotkehlchen ist immer noch ein kleiner grauer Vogel."
Die Jungen rissen ihre Schnäbel weit auf und fragten, ob ihre Vorfahren nicht versucht hätten, irgendeine Großtat zu vollbringen, um die unschätzbare rote Farbe zu erringen. "Wir haben alle getan, was wir konnten", sagte der kleine Vogel, "aber es ist uns allen misslungen. - Wir hofften auf den Gesang. Schon das erste Rotkehlchen dachte, die Sangesglut werde seine Brustfedern rot färben. Aber es täuschte sich. - Wir hofften auf unsere Tapferkeit. Schon das erste Rotkehlchen kämpfte tapfer mit anderen Vögeln. Es dachte, seine Brustfedern werden sich rot färben vor Kampfeslust. Aber es scheiterte. Der Vogel hielt mitten im Satz inne, denn aus einem Tore Jerusalems kam eine Menschenmenge gezogen.
"Nein, es ist zu entsetzlich", rief er seinen Jungen zu. "Ich will nicht, dass ihr diesen Anblick seht - da sind drei Missetäter, die gekreuzigt werden sollen." - Das Rotkehlchen konnte die Blicke nicht von den drei Unglücklichen wenden. "Wie grausam die Menschen sind!", sagte der Vogel nach einem Weilchen. "Auf dem Kopf des einen haben sie eine Krone aus stechenden Dornen befestigt." - Er sah, wie das Blut auf die Stirn des Gekreuzigten tropfte, da vermochte er nicht mehr still in seinem Neste zu bleiben. - "Wenn ich auch nur klein und schwach bin, so muss ich doch etwas für diesen armen Gequälten tun können", dachte der Vogel, verließ sein Nest und flog hinaus in die Luft. - Allmählich fasste er Mut, flog ganz nahe hinzu und zog mit seinem Schnabel einen Dorn aus, der in die Stirn des Gekreuzigten gedrungen war. Während er dies tat, fiel ein Tropfen Blut auf seine Kehle, verbreitete sich dort rasch und färbte alle seine zarten Brustfedern ein.
Als der Vogel wieder in sein Nest kam, riefen ihm seine kleinen Jungen zu: "Deine Brust ist roter als Rosen!" "Es ist nur ein Blutstropfen von der Stirne des armen Mannes", sagte der Vogel. "Der verschwindet, sobald ich in einem Bach bade." Aber so viel der kleine Vogel auch badete, die rote Farbe verschwand nicht von seiner Kehle, und als seine Kleinen herangewachsen waren, leuchtete die blutrote Farbe auch an ihren Brustfedern, wie sie auf jedes Rotkehlchens Brust und Kehle leuchtet, bis auf den heutigen Tag. (Nach Selma Lagerlöf)
Gutes zu tun und mit andern zu teilen, vergesst nicht; denn solche Opfer gefallen Gott wohl!
Hebräer 13,16
Axel Kühner "Zuversicht für jeden Tag"
© 2002 Neukirchener Verlagsgesellschaft mbH, Neukirchen-Vluyn, 7. Auflage
2017
Mit freundlicher Genehmigung des Verlages
Quelle: www.miriam-stiftung.de