Gedanken für den 15.03.2021

Jossel Rackower aus dem Warschauer Ghetto

"Ich bin jetzt 45 Jahre alt, und wenn ich auf die vergangenen Jahre zurückblicke, so kann ich behaupten, soweit ein Mensch überhaupt etwas mit Sicherheit behaupten kann: ich hatte ein herrliches Leben. Mein Leben war einmal vom Glück gesegnet, aber ich wurde nie übermütig.
Ich hatte ein offenes Haus für jeden Bedürftigen, und ich war glücklich, wenn ich einem Menschen gefällig sein konnte. Ich habe Gott in glühender Hingabe gedient, und meine einzige Bitte an ihn war, ich solle ihm dienen dürfen mit dem ganzen Herzen, mit der ganzen Seele und mit der ganzen Kraft. Nach allem, was ich erlebt habe, kann ich nicht behaupten, dass diese Einstellung ganz unverändert geblieben ist. Mit Sicherheit aber kann ich behaupten, dass sich mein Glaube an ihn nicht um ein Haar verändert hat. Früher, als es mir gut ging, war meine Beziehung zu ihm wie zu einem, der mir immer Gnade erwiesen hat und in dessen Schuld ich immer war. Jetzt aber ist es die Beziehung zu einem, der auch mir etwas schuldet. Darum denke ich, ich habe das Recht, ihn zu mahnen: ich fordere nicht wie Hiob, Gott möge mit seinem Finger auf meine Sünde zeigen, damit ich weiß, womit ich die Strafe verdiene. Größere und Bessere sind mit mir der Ansicht, dass es sich bei dem, was jetzt geschieht, nicht mehr um Strafe für Sünden handelt. Es geht etwas ganz Besonderes vor in der Welt - es ist jetzt die Zeit, da der Allmächtige sein Gesicht von den Betenden abwendet. Gott hat sein Gesicht vor der Welt verstellt. Und darum sind die Menschen ihren eigenen wilden Trieben überlassen."

Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Ich schreie, aber meine Hilfe ist ferne. Mein Gott, des Tages rufe ich, doch du antwortest nicht, und des Nachts, doch finde ich keine Ruhe!
Psalm 22,2f




Axel Kühner "Zuversicht für jeden Tag"
© 2002 Neukirchener Verlagsgesellschaft mbH, Neukirchen-Vluyn, 7. Auflage
2017
Mit freundlicher Genehmigung des Verlages
Quelle: www.miriam-stiftung.de