Gedanken für den 14.03.2021

Jetzt ist meine Stunde gekommen

"Millionen Menschen in der weiten, großen Welt, verliebt in den Tag, in Sonne und Licht, haben keine Ahnung davon, wie viel Finsternis und Unglück die Sonne uns gebracht hat. Sie ist zum Werkzeug in den Händen der Bösewichter geworden, sie wurde von ihnen benutzt, um die Spuren derer anzuleuchten, die sich vor ihnen retten wollten. Als ich mich mit meiner Frau und unseren sechs Kindern in den Wäldern versteckte, hat die Nacht, nur die Nacht uns in ihrem Schoß verborgen, der Tag hat uns denen ausgeliefert, die unsere Seelen suchten. Niemals werde ich den Feuerhagel vergessen, der auf die Tausende Flüchtlinge auf der Straße von Grodno nach Warschau herunterregnete. Mit der Sonne sind auch die Flugzeuge aufgestiegen und haben uns gemordet und gemordet. Bei dieser Schlächterei kam meine Frau um mit dem siebenmonatigen Kind im Arm. Zwei weitere meiner restlichen fünf geliebten Kinder verschwanden an diesem Tag. Sie haben David und Jehuda geheißen, und einer war vier, der andere sechs Jahre alt. Bei Sonnenuntergang sind die wenigen Überlebenden weiter ihren Weg in Richtung Warschau gegangen. Ich aber mit meinen drei übrig gebliebenen Kindern bin durch die Wälder und Felder rings um den Schlachtplatz geirrt und habe die verlorenen Kinder gesucht. Wie Messer haben die ganze Nacht hindurch unsere Stimmen die Totenstille zerschnitten. David! Jehuda! Aber nur ein hilfloses, reißendes Echo hat unsere Schreie beantwortet, wie ein Totengebet. Ich habe meine Kinder nie mehr gesehen. In einem Traum befahlen sie mir, sie nicht weiter zu suchen, da sie sich in Gottes Hand befänden. Meine letzten Kinder kamen im Warschauer Ghetto um. Jetzt ist meine Stunde gekommen."

Ich liege unter den Toten verlassen, wie die Erschlagenen, die im Grabe liegen, derer du nicht mehr gedenkst und die von deiner Hand geschieden sind.
Psalm 88,6




Axel Kühner "Zuversicht für jeden Tag"
© 2002 Neukirchener Verlagsgesellschaft mbH, Neukirchen-Vluyn, 7. Auflage
2017
Mit freundlicher Genehmigung des Verlages
Quelle: www.miriam-stiftung.de