Gedanken für den 13.03.2021

Jossel Rackower spricht mit Gott

Im Warschauer Ghetto wurde in einer Flasche das Bekenntnis eines Juden gefunden: "Ich, Jossel, Sohn des Jossel Rackower, schreibe diese Zeilen, während das Warschauer Ghetto in Flammen steht; das Haus, in dem ich mich befinde, ist eines der letzten, das noch nicht brennt. Schon seit einigen Stunden werden wir beschossen, und ringsum stürzen die Mauern ein; in kurzer Zeit wird auch dieses Haus, wie fast alle anderen Häuser des Ghettos, seinen Bewohnern und Verteidigern zum Grab werden. Die roten Sonnenstrahlen, die durch das halbvermauerte Fenster meines Zimmers hereinkommen - dieses Zimmers, aus dem ich tage- und nächtelang den Feind beschossen habe -, zeigen mir, dass es Abend wird; die Sonne kann nicht wissen, wie wenig ich es bedaure, dass ich sie nicht mehr aufgehen sehen werde.
Mit uns ist etwas Merkwürdiges geschehen: alle unsere Begriffe und Gefühle haben sich gewandelt. Der plötzliche Tod, der uns überfällt, erscheint uns als Erlöser, als ein Befreier, als ein Kettenbrecher...
Als ich mich im Wald versteckte, begegnete mir in der Nacht ein Hund, ein kranker, verhungerter Hund, den Schwanz zwischen die Beine geklemmt. Wir spürten sofort die Gemeinsamkeit unserer Lage, denn dem Hund ging es nicht viel besser als uns. Er hat sich an mich geschmiegt, hat seinen Kopf in meinen Schoß vergraben und mir die Hände geleckt. Ich glaube, ich habe nie vorher so geweint wie in dieser Nacht. Ich bin ihm um den Hals gefallen und habe geweint wie ein Kind. Es wird niemanden wundern, wenn ich sage, dass ich damals die Tiere beneidete. Aber ich empfand noch etwas anderes als Neid: es war Scham, ich habe mich vor dem Hund geschämt, dass ich kein Hund bin, sondern ein Mensch, und dass wir in einen Geisteszustand geraten sind, wo uns das Leben ein Unglück, der Tod ein Erlöser, der Mensch eine Plage und die Nacht ein Labsal sind."

Denn meine Seele ist übervoll an Leiden, und mein Leben ist nahe dem Tode!
Psalm 88,4




Axel Kühner "Zuversicht für jeden Tag"
© 2002 Neukirchener Verlagsgesellschaft mbH, Neukirchen-Vluyn, 7. Auflage
2017
Mit freundlicher Genehmigung des Verlages
Quelle: www.miriam-stiftung.de