Gedanken für den 04.03.2021

Die Notlüge

Samuel Keller erzählt in seinen Erinnerungen:
"Als ich einen schwer kranken Mann besuchte, der das Abendmahl von mir erbeten hatte, traf ich den Arzt am Krankenbett und fragte ihn auf lateinisch, wie es um den Mann stehe. Ebenfalls auf lateinisch sagte mir der Arzt, dass der Mann die Nacht nicht überlebe. Dann tröstet der Arzt den Mann mit einer guten Medizin und macht ihm Hoffnung auf Besserung. Als der Arzt gegangen war, sah mich der Mann mit klaren Augen an und sagte: Herr Pastor, Sie werden mich nicht belügen, was sagte der Arzt, wie es um mich steht?
Als ich es ihm schonend erklärt hatte, bat der Mann seine Frau, die beiden Jungen aus der Fabrik zu holen, damit er vor dem Abendmahl noch mit ihnen reden könne. Ich unterhielt mich mit dem Mann. Und bald darauf kamen Mutter und die Söhne in das Krankenzimmer. Jetzt hat der Sterbende einen Abschied mit seinen Jungen gemacht, der eines Königs würdig gewesen wäre. Was er ihnen über die wichtigen Dinge des Lebens ans Herz legte, wie er über ihre Aufgabe an der Mutter und den kleinen Geschwistern mit ihnen sprach, war ergreifend, und tief bewegt knüpfte ich daran an und wir feierten alle zusammen das Abendmahl. Ein tiefer Friede zog in die Herzen und das Haus ein, und versöhnt konnte der Mann noch in der Nacht heimgehen.
Das wäre bei einer Notlüge nicht geschehen, wenn ich dem Beispiel des Arztes gefolgt wäre. Haben nicht gerade Sterbende ein besonderes Recht auf Wahrheit und Liebe?"

Darum legt die Lüge ab und redet die Wahrheit, ein jeder mit seinem Nächsten!
Epheser 4,25




Axel Kühner "Zuversicht für jeden Tag"
© 2002 Neukirchener Verlagsgesellschaft mbH, Neukirchen-Vluyn, 7. Auflage
2017
Mit freundlicher Genehmigung des Verlages
Quelle: www.miriam-stiftung.de